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Die Wahlrechtsreform – eine Geschichte schwieriger Kompromisse

Der Deutsche Bundestag ist mit 709 Abgeordneten das zweigrößte Parlament der Welt, obwohl Deutschland mit 83 Millionen Einwohnern lediglich auf Platz 19 der einwohnerreichsten Länder liegt. Nur der nationale Volkskongress in China ist noch größer. Politische Beobachter befürchten, dass das Parlament in Berlin aufgrund des deutschen Wahlsystems nach der Bundestagswahl 2021 noch größer werden wird. Um einen weiter aufgeblähten Bundestag zu verhindern sind allerdings Reformen nötig, die schwierig zu finden und umzusetzen sind.

Das deutsche Wahlsystem für die Wahl des Deutschen Bundestages ist eine personalisierte Verhältniswahl. Mit der Erststimme wählt man im Mehrheitsprinzip einen Kandidaten oder eine Kandidatin aus dem jeweiligen Wahlkreis, mit der Zweitstimme wird im Verhältnisprinzip die Partei gewählt. Wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Erst- als Zweitstimmen erhält, bekommt sie so viele zusätzliche Mandate – sogenannte Überhangmandate – wie die Differenz zwischen Erst- und Zweitstimmen. Um die ursprünglichen Mehrheitsverhältnisse wieder auszugleichen, erhalten die übrigen Parteien seit 2013 sogenannte Ausgleichsmandate. Dieses Wahlprinzip hat zur Folge, dass nach der Bundestagswahl 2017 die Anzahl der Abgeordneten von 598 auf 709 anstieg. Die ursprünglich festgelegte Parlamentsgröße von 598 hatte den Hintergrund, dass sie den Bevölkerungsanteil proportional im Parlament repräsentiert: 21,6 Prozent der Bevölkerung lebt in Nordrhein-Westfalen, 21,4 Prozent der Mandate im Bundestag gehen an Abgeordnete aus NRW.

Die aktuelle Reformdebatte

Anlass für die aktuelle Debatte war das Anwachsen des Deutschen Bundestages nach der Bundestagswahl 2017 um mehr als ein Sechstel, von regulär 598 Mandaten auf 709 aufgrund der Überhang- und Ausgleichsmandate. Die Opposition, Medien und Think Tanks fordern seit Jahren eine Reform, um die Zusammensetzung des Bundestages zu verkleinern. Das Komplexe oder auch Widersprüchliche ist: vom Wahlrecht wird erwartet, dass es auch mehrheitsbildend wirken soll. Daraus ergibt sich jedoch ein Einfallstor für Versuche der Parteien, das Wahlrecht auf die eigenen Interessen hin, auszulegen. Dass die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Reformierung des Wahlrechts von der Großen Koalition weniger auf die Beseitigung möglicher Nachteile als vielmehr auf machtpolitische Interessen der Parteien ausgerichtet wurde, schwingt immer mit.

Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien sind sich einig, dass es einer Wahlrechtsreform bedarf, um das Anwachsen des Parlaments zu begrenzen. Die Kompromissfindung dafür gestaltet sich allerdings schwierig: Die Union als stärkste Fraktion stellt sich gegen eine umfassende Reform, weil sie dadurch potenziell Sitze verlieren könnte. Die Oppositionsparteien FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen unterbreiteten in einem gemeinsamen und früh abgestimmten Vorschlag, die Wahlkreise von 299 auf 250 zu reduzieren, womit die Zahl der Direktmandate gesenkt und gleichzeitig die reguläre Sitzzahl von 598 auf 630 angehoben würde. Somit sollte das Ausufern von Überhang- und Ausgleichsmandaten verhindert werden. Darüber hinaus wollten sie das sogenannte Sitzkontingentverfahren abschaffen, das die Sitze nach Bevölkerungsanteil auf die Bundesländer aufteilt und zu weiteren Ausgleichsmandaten führt. Der Koalitionspartner der Union dagegen, die SPD, schlug vor, auf knapp errungene Direktmandate zu verzichten.

Der im Oktober 2020 verabschiedete Kompromissvorschlag der Koalitionsfraktionen sieht nun vor, dass es bei der diesjährigen Bundestagswahl bei 299 Wahlkreisen bleibt. Überhangmandate einer Partei sollen teilweise mit ihren Listenmandaten verrechnet werden. Beim Überschreiten der Regelgröße von 598 Sitzen sollen künftig bis zu drei Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Eine umfassende Reform soll es erst bei der Bundestagswahl 2025 geben. Eine Reformkommission soll bis 2023 Vorschläge vorlegen. Als „effektlos“, „Flickschusterei“ und „Schuss in den Ofen“ wird die aktuelle Reform von der Opposition kritisiert. Auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags beurteilt den Wirkungseffekt der Reform als zu gering. Dieser sei so undurchschaubar formuliert, dass selbst Experten den exakten Sinn des Gesetzeswortlauts nicht benennen könnten. Bei all der Komplexität wiegt auch schwer, dass die Koalitionsfraktionen politische Umgangsformen außer Acht gelassen haben. Die Opposition wurde in die Lösung nicht mit einbezogen, obwohl etwas so Grundsätzliches wie das Wahlrecht mit möglichst breitem Konsens geregelt werden sollte. Die Fronten haben sich dadurch weiter verhärtet. Dass sich die Koalitionsparteien überhaupt geeinigt haben, ist bemerkenswert, herrschte auch untereinander eine große Uneinigkeit. Erst als die Sozialdemokraten damit drohten, „die Abstimmung im Bundestag auch einfach“ freizugeben, um die Abgeordneten selbst entscheiden zu lassen, welchen Vorschlag (SPD, Union oder Opposition) sie unterstützen, lockerte die Union ihren Standpunkt und bewegte sich auf die SPD zu. Die Angst, das Verfahren nicht in der eigenen Hand zu haben, war bei CDU/CSU zu groß. Für eine umfassende Reform vor der nächsten Bundestagswahl war es da bereits zu spät. Die Folge: eine „XXS-Einigung“. Schlussendlich setzte sich die Union jedoch größtenteils mit ihrem Vorschlag zur Wahlrechtsreform durch.

FDP, Die Linke und Grüne wollen gegen die verabschiedete Reform vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Diese würde den Verteilmechanismus der Mandate besonders zugunsten der Union verzerren. Am 01. Februar 2021 haben die Oppositionsparteien ihre Normenkontrollklage gegen die Neuregelung der Wahlrechtsreform vorgestellt. Mit dieser Klage können Rechtsnormen auf Bundes- oder Länderebene auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geprüft werden. Sollte das Bundesverfassungsgericht die Wahlrechtsreform der Großen Koalition als verfassungswidrig betrachten, kann das Gesetz für nichtig erklärt werden. Stuft es lediglich eine Rechtsnorm für unvereinbar mit dem Grundgesetz ein, muss der Gesetzgeber diese Unvereinbarkeit beseitigen. Unvereinbarkeiten werden vom Bundesverfassungsgericht etwa dann ausgesprochen, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit hat. Wie das Urteil ausfallen wird, bleibt abzuwarten. Doch eines steht fest: Eine Reform wird kommen. In welchem Umfang wird sich zeigen – je nachdem, was im weiteren Interesse der entscheidenden Parteien liegt. 

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Der Autor Max Kastner berät für ADVICE PARTNERS im Bereich Public Affairs


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